Neues Konzept der Leberfunktion – Kombination von aktivem Transport, Diffusion und Fluss

Rund fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden an Lebererkrankungen. Besonders schwerwiegend ist die nicht-alkoholische Fettleberentzündung, die im fortgeschrittenen Stadium durch Lebertransplantation behandelt werden muss. Eine anerkannte, wirksame Therapie gibt es für diese Erkrankung noch nicht. Dies liegt unter anderem daran, dass die Funktionsweise der Leber und die Mechanismen der Störung bei Krankheit noch nicht ausreichend verstanden sind. Die Arbeitsgruppen von Dr. Nachiket Vartak und Prof. Jan Hengstler am IfADo in Dortmund haben in einer aktuell in der Fachzeitschrift Hepatology erschienenen Arbeit gezeigt, dass der Transport der giftigen Galle grundlegend anderen Prinzipien folgt als seit etwa 60 Jahren angenommen.

Abweichend von der bisherigen Lehrmeinung, wird Galle in den kleinen Gallenkanälchen der Leber nicht per Fluss (physikalisch: Advektion) transportiert – so wie man das von Wasser kennt, das in einem Flussbett fließt (Abb. 1A). Vielmehr wird der Transport darin befindlicher Gallensalze oder auszuscheidender Fremdstoffe durch Diffusion dominiert, so wie sich ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser ausbreitet (Abb. 1B). Für die Behandlung von Lebererkrankungen ist das richtungsweisend.

Abb. 1: Modelle der Leberfunktion: A. Osmotisches Modell. Gallensalze werden von den Hepatozyten in die Gallenkanälchen (Gallenkanalikuli) gepumpt und nehmen osmotisch Wasser mit, was zu Fluss (Advektion) führt. Entsprechend dem auf dem osmotischen Modell aufbauenden Zerial-Modell können durch den Fluss Drücke entstehen, die zu Lebererkrankungen beitragen. B. Diffusions-Fluss-Modell nach Vartak und Hengstler. Gallensalze werden in Gallenkanälchen gepumpt, wodurch dort höhere Konzentrationen entstehen. Anschließend diffundieren die Gallensalze hin zu den Gallengängen, entlang eines Konzentrationsgradienten. Erst in den Gallengängen wird Wasser durch Cholangiozyten in das Innere des Gangs gepumpt, sodass ein Fluss entsteht. Das Vartak-Hengstler Modell differenziert so zwischen einer Diffusions-dominierten und einer durch Fluss unterstützten funktionellen Domäne der Leber.
Abb. 1: Modelle der Leberfunktion: A. Osmotisches Modell. Gallensalze werden von den Hepatozyten in die Gallenkanälchen (Gallenkanalikuli) gepumpt und nehmen osmotisch Wasser mit, was zu Fluss (Advektion) führt. Entsprechend dem auf dem osmotischen Modell aufbauenden Zerial-Modell können durch den Fluss Drücke entstehen, die zu Lebererkrankungen beitragen. B. Diffusions-Fluss-Modell nach Vartak und Hengstler. Gallensalze werden in Gallenkanälchen gepumpt, wodurch dort höhere Konzentrationen entstehen. Anschließend diffundieren die Gallensalze hin zu den Gallengängen, entlang eines Konzentrationsgradienten. Erst in den Gallengängen wird Wasser durch Cholangiozyten in das Innere des Gangs gepumpt, sodass ein Fluss entsteht. Das Vartak-Hengstler Modell differenziert so zwischen einer Diffusions-dominierten und einer durch Fluss unterstützten funktionellen Domäne der Leber. Quelle: IfADo

„Bei Lebererkrankungen geht es nicht darum, Flüsse von Galle und erhöhte Drücke in den Gallenkanälchen zu behandeln“, erläutert Dr. Vartak, Leiter der Projektgruppe ‚Funktionelles Imaging‘ am IfADo. „Das wäre irreführend bei einem diffusionsdominierten biologischen Prozess. Vielmehr müssen in Zukunft die molekularen Mechanismen verstanden werden, warum Gallenwege undicht werden und giftige Galle ins Gewebe eindringt“, so Vartak. Die neuen Techniken, welche die Messung von Fluss und Diffusion in kleinsten biologischen Strukturen ermöglichen, werden in der gerade erschienenen Publikation beschrieben (Vartak et al., 2020) dargestellt.

Entgiftung durch die Leber

In unserem Alltag nehmen wir ständig Fremdstoffe auf. Dies geschieht durch die Nahrung, durch Medikamente oder durch Chemikalienbelastungen an bestimmten Arbeitsplätzen. Werden Fremdstoffe nicht wieder aus dem Körper ausgeschieden, können sie zu schweren Krankheiten führen. Für die Ausscheidung der Fremdstoffe sind Niere und die Leber zuständig. Über die Nieren erfolgt die Ausscheidung in den Urin.

Aber viele Substanzen können nicht über die Nieren ausgeschieden werden, zum Beispiel wenn sie zu fettlöslich sind oder ihr Molekulargewicht zu hoch ist. Für diese Substanzen ist die Leber zuständig. Mit speziellen Pumpen holt sie giftige Verbindungen aus dem durch die Leber fließenden Blut in bestimmte Zellen, die Hepatozyten. Das sind die metabolischen Kraftwerke der Leber: Dort laufen chemische Reaktionen ab, durch welche viele Gifte zu Produkten umgesetzt werden, die wesentlich ungiftiger sind. Diese Produkte werden häufig über die Galle in den Darm ausgeschieden, sodass wir sie über den Stuhl wieder loswerden.

Das Kanalsystem

Über ein raffiniertes Kanalsystem wird die Galle mitsamt Fremdstoffen in den Darm abgeleitet. Die Ausscheidung über die Galle funktioniert über folgenden Mechanismus: Hepatozyten scheiden die Fremdstoffe in ein Kanalsystem aus, die sogenannten Gallenkanälchen (Gallenkanalikuli). Diese Gallenkanälchen sind sehr dünn, ihr Durchmesser beträgt etwa 0,001 Millimeter. Legt man jedoch alle Gallenkanälchen einer menschlichen Leber aneinander, so kommt man auf eine Länge von mehr als 3.000 Kilometern. Diese Kanälchen sind aber nicht entlang einer geraden Strecke angeordnet. Sie bilden vielmehr ein vielverzweigtes Netzwerk, ähnlich einer großstädtischen Kanalisation, welche das Abwasser von allen Häusern einer Stadt auffängt und ableitet. Die Gallenkanälchen führen schließlich in die größeren Gallengänge, die sich zu noch größeren Röhren vereinigen und in den Dünndarm münden.

Neben der Ausscheidung von Fremdstoffen führen die Gallenwege auch die Gallensalze in den Darm. Diese sind erforderlich, damit fettreiche Nahrung verdaut werden kann. Sind die Gallenwege jedoch undicht, können Gallensalze in normales Gewebe gelangen. Das hat zur Folge, dass auch dieses Gewebe angedaut wird, was wiederum zu schweren Entzündungen führt.

Das herkömmliche osmotische Modell

Wie kommt es dazu, dass Fremdstoffe oder Gallensalze durch die Gallenwege in den Darm gelangen? Bereits 1959 wurde versucht, dies durch das sogenannte osmotische Modell zu erklären (Abb. 1A). Dieses Modell ist seitdem in sämtlichen medizinischen Lehrbüchern zu finden. Nach dem osmotischen Modell transportieren Hepatozyten die Gallensalze über energiegetriebene Pumpen in die Gallenkanälchen.

Weil Gallensalze – wie jedes Salz – osmotisch Wasser mit sich nehmen, gelangt mit den Gallensalzen auch zusätzliches Wasser in die Kanälchen. Da die Kanälchen nur zum größeren Gallengang hin offen sind, fließt die Galle dem osmotischen Modell entsprechend in diese Richtung. Gemessen wurde dieser Fluss jedoch noch nie. Das liegt am winzigen Durchmesser der Gallenkanälchen, der mit herkömmlichen Methoden nicht untersucht werden kann.

Neue Techniken am IfADo

An dieser Stelle setzen die neuen Techniken an, die am IfADo in Dortmund entwickelt wurden. Die Gruppen von Nachiket Vartak (Funktionelles Imaging) und Jan Hengstler (Systemtoxikologie) haben eine neue Technik entwickelt, mit der Flüsse in extrem kleinen biologischen Strukturen gemessen werden können. Hierbei werden für sehr kleine Regionen im Gewebe mit rascher Sequenz im Millisekundenbereich Fluoreszenzsignale erfasst. Aus den Charakteristika der zeitlichen und räumlichen Veränderung dieser Signale können der Fluss und/oder die Diffusion errechnet werden.

Prof. Hengstler erklärt

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Zur Veranschaulichung: Würden sich Moleküle zwischen zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Bildern nicht bewegen, wären also identisch, dann würden sie perfekt mit sich selbst korrelieren. Doch je schneller sie sich bewegen, desto unähnlicher werden die Bilder zueinander. Die sogenannte Autokorrelation nimmt ab. Die Untersuchung der Autokorrelation der durch einzelne Moleküle hervorgerufenen Fluoreszenz ist somit ein mathematisches Verfahren der Signal- und Bildverarbeitung, mit dem sowohl der Fluss als auch die Diffusion in einer biologischen Struktur genau bestimmt werden können. Auf diese Weise kamen die Gruppen zu einer überraschenden Erkenntnis: „Die Galle fließt nicht. Der Transport in den Kanälchen findet durch passive Diffusion statt. Erst ab der Einmündung in den Gallengang beginnt unter Zuleitung von Wassermolekülen der eigentliche aktive Fluss“, sagt Nachiket Vartak.

„Die Messungen und Berechnungen sind korrekt“, kommentiert Jan Hengstler. „Aber die Mathematik hinter den Autokorrelationsanalysen ist komplex. Millionen Ärztinnen und Ärzte haben gelernt, dass die Galle fließt. Wenn wir die medizinischen Fachleute überzeugen wollen, brauchen wir einen zweiten Beweis, der möglichst eingängig ist.“

Der verflixte zweite Beweis

Das war leichter gesagt als getan. Es kostete die Teams mehr als ein Jahr, einen unabhängigen Beweis im Mausmodell zu erbringen. Hierzu wurde eine Methode mit einer diagnostischen Substanz, ‚CNMB-caged fluorescein‘, entwickelt. Die Substanz wird von den Hepatozyten in die Gallenkanälchen transportiert. Sie wird dort aber erst sichtbar, wenn sie mit energiereichem Licht angestrahlt wird. Das besondere dieser Technik besteht darin, dass man nun in eine intakte, lebende Leber hineinfilmen kann, und während der Aufnahmen in interessierenden Gewebebereichen, zum Beispiel in den Gallenkanälchen, die Substanz zum Leuchten bringen kann (Abb. 2). So konnte das Team im Tierversuch direkt beobachten, wie die nur in bestimmten Geweberegionen ‚photoaktivierte‘ Substanz sich ausbreitet.

Das Fazit war eindeutig: In den Gallenkanälchen gab es keinen messbaren Fluss. Gallensalze verbreiteten sich symmetrisch in den Gallenkanälchen (Abb. 2B; Video 2) wie ein Tropfen Tinte, den man in ein Wasserglas gibt: Durch Diffusion gelangen sie von einem Ort höherer zu einem Ort niedrigerer Konzentration. So diffundieren die Gallensalze von den Gallenkanälchen zu den größeren „Abflussröhren“, den Gallengängen. Erst dort wird Wasser eingeleitet und es kommt zum Fluss. IfADo-Forscher Nachiket Vartak: „Man kann sich die Gallenkanälchen wie einen stehenden Teich vorstellen, der mit einem Fluss verbunden ist. Kippt man Tinte oder Salz in den Teich, dann gelangt dieses schließlich auch in den Fluss – aber es fließt nicht dorthin, sondern diffundiert.“ (Abb. 1B).

Abb. 2: Experimentelle Unterscheidung von Fluss und Diffusion in intakten Lebern der Maus: A. In einem Blutgefäß kommt es zu gerichtetem Transport einer photoaktivierten diagnostischen Substanz (CNMB-caged fluorescein). Durch lokale Bestrahlung beginnt der angezeigte Bereich grün zu leuchten und es kann beobachtet werden, wie er sich entlang des Blutgefäßes bewegt. B. Hingegen breitet sich das grün leuchtende Material in den Gallenkanälchen symmetrisch aus. Das ist typisch für Diffusion und schließt Fluss aus.
Abb. 2: Experimentelle Unterscheidung von Fluss und Diffusion in intakten Lebern der Maus: A. In einem Blutgefäß kommt es zu gerichtetem Transport einer photoaktivierten diagnostischen Substanz (CNMB-caged fluorescein). Durch lokale Bestrahlung beginnt der angezeigte Bereich grün zu leuchten und es kann beobachtet werden, wie er sich entlang des Blutgefäßes bewegt. B. Hingegen breitet sich das grün leuchtende Material in den Gallenkanälchen symmetrisch aus. Das ist typisch für Diffusion und schließt Fluss aus. Quelle: IfADo

Georgia Günther, Technikerin am IfADo, hat einen großen Teil der Versuche durchgeführt: „Wir waren erst verblüfft, als wir gesehen haben, dass die Galle nicht fließt, sondern diffundiert. Doch das hat sich wieder und wieder bestätigt. Es ist überzeugend, wenn man diese Prozesse jetzt direkt sehen kann und nicht mehr auf komplexe Modellrechnungen angewiesen ist.“

Kontroverse über die beste Behandlung von Lebererkrankungen

Dieser scheinbar feine Unterschied – Fluss oder Diffusion – ist keinesfalls nur eine akademische Spitzfindigkeit. Vielmehr hängt davon ab, wie man Lebererkrankungen am besten behandelt. So vertritt Prof. Marino Zerial, Direktor des Max-Planck-Institutes für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, die Theorie, dass Fluss und der dadurch entstehende erhöhte Druck in den Gallenkanälchen zu Lebererkrankungen führen. Basierend auf der Annahme, dass Galle in den Kanälchen fließt, hat sein Team modelliert, wie schnell dieser Fluss ist. Dieses Modell errechnet, dass der Fluss der Galle bei Krankheiten der Leber relativ hohe Drücke in den Gallenkanälchen verursacht. Die Dresdner Gruppe schlussfolgert in einer kürzlich in „Nature Medicine“ erschienenen Publikation, dass der erhöhte Druck in den Gallenkanälchen ein wichtiges pathophysiologisches Prinzip bei der häufigen Fettleberentzündung darstelle (Segovia-Miranda, 2019). Daraus folgt, dass Medikamente bei solchen Erkrankungen Fluss und Druck reduzieren sollten.

Auf Basis der aktuellsten Erkenntnisse muss dieses Vorgehen jedoch im Hinblick auf eine für Patienten gute Therapie hinterfragt werden. Denn nach den neuen Messmethoden am IfADo gibt es keinen relevanten gerichteten Fluss in den Gallenkanälchen. Behandlung von Fluss und Druck sind dem Modell von Vartak-Hengstler entsprechend daher irreführend, weil sie nicht auf die tatsächliche Ursache der Fettlebererkrankung abzielen. „Wichtiger wäre es dagegen, sich auf die molekularen Mechanismen zu konzentrieren, die dafür verantwortlich sind, dass die Gallenwege undicht werden und dann die giftige Galle ins Lebergewebe eindringt“, sagt Nachiket Vartak.

Noch gibt es keine anerkannte, wirksame Therapie der nicht-alkoholischen Fettleberentzündung. Die aktuelle IfADo-Forschungsarbeit zeigt, wie wichtig es für die Entwicklung möglicher neuer Therapien ist, zunächst die Grundlagen richtig zu verstehen. Das Team hat für die aktuelle Veröffentlichung zusammen mit internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich, Schweden und Ägypten gearbeitet.

Video 1: Fluss in einem Blutgefäß. Hier wird in einem Blutgefäß der Leber ein Dextranderivat photoaktiviert. Man kann mitverfolgen, wie das fluoreszierende Material von links nach rechts fließt.

Video 2: Diffusion in Gallenkanälchen (Gallenkanalikuli). Hier wurden zirkuläre Regionen des kanalikulären Netzwerks photoaktiviert. Es ist zu erkennen, dass sich die Fluoreszenz in dem Netzwerk der Gallenkanalikuli symmetrisch ausbreitet. Das ist typisch für Diffusion, denn Fluss würde zu einem gerichteten Transport wie im Blutgefäß in Video 1 führen. Zusätzlich wurde eine Photoaktivierung in einem Gallengang (‚Interlobular bile duct‘, IBD) durchgeführt. Hier trägt sowohl Diffusion als auch Fluss zum Transport bei.

Die beiden hier besprochenen Studien:

Vartak-Hengstler Modell:
Vartak N, Guenther G, Joly F, Damle-Vartak A, Wibbelt G, Fickel J, Jörs S, Begher-Tibbe B, Friebel A, Wansing K, Ghallab A, Rosselin M, Boissier N, Vignon-Clementel I, Hedberg C, Geisler F, Hofer H, Jansen P, Hoehme S, Drasdo D, Hengstler JG. Intravital dynamic and correlative imaging reveals diffusion-dominated canalicular and flow-augmented ductular bile flux. Hepatology. 2020 Jun 19. doi: 10.1002/hep.31422. Online ahead of print.

Zerial-Modell:
Segovia-Miranda F, Morales-Navarrete H, Kücken M, Moser V, Seifert S, Repnik U, Rost F, Brosch M, Hendricks A, Hinz S, Röcken C, Lütjohann D, Kalaidzidis Y, Schafmayer C, Brusch L, Hampe J, Zerial M. Three-dimensional spatially resolved geometrical and functional models of human liver tissue reveal new aspects of NAFLD progression. Nat Med. 2019 Dec;25(12):1885-1893. doi: 10.1038/s41591-019-0660-7. Epub 2019 Dec 2. PMID: 31792455